Regie: Gottfried von Einem
Produktion: Radio Bremen (2000)
Erstsendung: Sonntag, 28. Mai 2000 in Radio Bremen
Das Hörspiel hat den Robert-Geisendörfer-Preis, den Medienpreis
der Evangelischen Kirche für den Bereich Hörfunk bekommen. Eine
ausführliche Information finden Sie auch auf der RadioBremen
Webseite. Die Verleihung fand am 20. Juni 2001 beim ZDF in
Mainz statt.
Selbstgespräch, als Hörspiel getarnt: "Lisabetha" (RB)
"Weißt du, warum tote Menschen so schön sind" Unter uns: Bis
dahin hatte ich geglaubt, wenn das Gesicht einmal vollkommen
entspannt auf dem Schädel liege, dann werde sich ganz von selbst
ein Ausdruck des Friedens einstellen, wie er im Leben einer Hand
voll glücklicher Augenblicke vorbehalten ist. Zum Glück saß die
Frau, die es besser wusste, nur einige Tische entfernt und sprach
so laut, dass nicht nur ihre Freunde, sondern auch die anderen
Gäste des Restaurants etwas dazulernen konnten.
Mit den Toten ist das nämlich so: Wenn es zu Ende geht, zieht ein
Mensch sich allmählich aus seinem Körper zurück. So entsteht ein
Hohlraum, in den göttliche Energie einsickern kann. Der Kopf wird
ieer und beginnt zu leuchten. Das fange schon eine Weile bevor man
sterbe an, strahlte die Frau am anderen Tisch. Sie ist in Indien
und in China gewesen und hat dort Dinge erfahren die Unsere
Schulmedizin uns nicht träumen lässt.
Doch zum Hörspiel: Lisabetha ist siebenundneunzig Jahre alt, und
ihre Umgebung scheint ihr zu verübeln, dass sie noclh immer keine
Anstalteit macht aus ihrem Körper zu verschwinden. Die alte Dame
hat den richtigen Zeitpunkt einfach verpasst. Das Fleisch ist
schwach, aber der Geist will mehr. Lisabetha hat nach wie vor
einen Heißhunger auf Cremeschnitten und schreckliche Angst vor dem
Sterben. Wer bat eigentlich gesagt, dass alte Menscheft dem Tod
gelassener entgegensehen? Das ist eine schöne Geschichte für
Leute, die noch oft genug gesagt bekommen, wie jung sie
aussehen.
Was bleibt zu tun, wenn man sein statistisches Todesdatum weit
hinter sich weiß? Man kann unbarmherzig beobachten, wie die
Mitmenschen, hinter Komplimenten verschanzt, auf Anzeichen von
Schwäche lauern. Man meidet, so gut es geht, die Biotope für
Betagte. Man beginnt in der dritten Person von sich zu reden und
das Alter als Experiment zu betrachten. Lisabetha schickt Briefe
an sich selbst, um sicherzugehen, dass sie nicht von der Außenwelt
abgeschnitten ist. Sie spielt einen Schlaganfall vor, um
herauszufinden, wie lange Freunde, Pflegepersonal und Ärzte
brauchen, um den Schwindel zu bemerken. Sie meidet die Diaabende
im Seniorenheim, für dieses "Wachsfigurenkabinett" hat sie nur
Verachtung übrig. Kurz: Lisabetha hat sich entschieden, eine
"aufmüpfige Alte" zu werden, die einfach nicht sterben will.
In ihrem Innern hat sie dennoch bereits ein bisschen Platz
gemacht und einen Sessel freigeräumt, auf dem der Zuhörer Platz
nehmen kann. Susanne Krahes Hörspiel lud für achtundzwanzig
Minuten zu einem Aufenthalt in Lisabethas Kopf ein. Von der Straße
drangen Worte und Geräusche gedämpft herein. Doch der Gast kam
kaum dazu, sich den Sinnen der Heldin zu überlassen. Ihre innere
Stimme ließ ihm keine Ruhe. Dem ausgreifenden Monolog, in dem
Gisela Trowe als Lisabetha das Fegefeuer der späten Jahre
beschwor, fehlte weder Klarsicht noch Schärfe. In der Enge des
Kopfes klang er dennoch bald hohl. Wer lange genug mit sich selbst
spricht, hat irgendwann immer Recht. Darüber kann man gut
verschwörerisch in sich hineinkichern. Hörer braucht man dazu
keine.
Frank Kaspar
FAZ vom 30.05.2000
Nicht blind von Beruf – Zum Tod der Schriftstellerin Susanne Krahe
Eine vielversprechende Theologin erblindet. Sie bekommt eine Niere transplantiert und eine Bauchspeicheldrüse dazu. Sie wird unsanft aus ihrer wissenschaftlichen Karriere gerissen und findet sich mit Anfang Dreißig unter mütterlicher Aufsicht in ihrer alten Heimat wieder. Was nun? Zu ihrem und unserem Glück kann sie schreiben, konnte es schon vor ihrer Erblindung. Aber jetzt sieht sie klarer. Und tiefer. Ihr durch keine glatte Oberfläche mehr zu täuschender Blick dringt bis in die Randbezirke des menschlichen Lebens vor. Dort kämpfen Menschen auf der Intensivstation ums Leben oder warten im Pflegebett auf die „Fütterung“. Dort wird eine Blinde wie ein lästiges Paket abgestellt und eine Gehbehinderte zum Klotz am Bein.
Susanne Krahe macht ihr Leben zum Material, begutachtet das hinter und vor ihr Liegende mit kühlem Blick, formt um, lässt weg, erfindet hinzu und wird so zur Schriftstellerin. Das Schönreden und Schönfärben ist ihre Sache nicht. Wer gerne fromme Märchen oder wundersame Heilungsgeschichten liest, ist bei ihr an der falschen Adresse. Wer aber keine Angst vor „Reisen in das beschädigte Leben“ hat, wird mit Texten von höchster literarischer Qualität und Intensität belohnt. Dabei formt das Blindsein dieser Autorin eine ganz eigene, die Wirklichkeit mit Händen ertastende Sprache von frappierender Anschaulichkeit. Da steht ein Fragezeichen mitten im Raum, ihm wird der Kopf abgebissen. Da klebt ein Blick an den Brillengläsern fest. Da hinterlässt das "Verpacken" einer traumatischen Erfahrung „Schnitte, die die seidenen Kordeln beim Festzurren in die Fingerkuppen ritzen.“
Auch die Bibel war für Susanne Krahe eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Aus den biblischen Geschichten machte sie moderne Literatur, indem sie die Geschehnisse auf überraschende Weise aktualisierte und verfremdete. Durch diese „literarische Exegese“ wird ein frischer Blick auf scheinbar Bekanntes möglich. Der Evangelist Markus geht als zweifelnder Sucher auf die Reise, aus Rahel wird eine auf Rache sinnende Frau, während Jesus zum „defekten Messias“ mutiert, der seine Jünger durch stotternde Reden und spastische Zuckungen verunsichert. So hatten sie sich den Erlöser nicht vorgestellt.
Wer Susanne Krahe persönlich begegnete konnte erleben, wie geschickt sie manch täppische Befangenheit von uns „Augenmenschen“ auflöste und mit dem ihr eigenen Humor in ein angeregtes Gespräch verwandelte. Da hat sich eine aus ihrer „Dunkelkammer“ ins Freie geschrieben, da hat eine aus ihrem Leben Funken geschlagen, die in manche Nacht hineinleuchten. Wir können nur dankbar sein für dieses Geschenk.
Susanne Krahe ist am 20. August 2022 gestorben. Sie wurde 62 Jahre alt.
Nachruf von Carola Moosbach
erscheint am 1.11 im Magazin P&S (Magazin für Psychtherapie und Seelsorge)