Regie: Jörg Schlüter
Produktion: WDR (1998)
Einer wird gefüttert, einer muss füttern und pflegen, der andere spuckt.
Ein scharf gezeichnetes Bild der Pflege von Menschen.
Raphael ist ein Kleinkind mit schwerster Behinderung und erzählt, wie es ist, wenn man von der eigenen Mutter fast zu Tode gefüttert wird. Ein Zivildienstleistender bringt einer alten Frau Essen und muss sich gegen Versuche wehren, dabehalten zu werden. Sie möchte Gesellschaft, er schnell weiter und dann ab ins Wochenende. Der Spucker ist ein alter, ans Bett gefesselter Mann. Vollständig gelähmt und auf der Suche nach dem letzten Rest vermeintlicher Stärke. Die demonstriert er, indem er dem Pflegepersonal urplötzlich das Essen ins Gesicht rotzt. In den drastischen Beschreibungen der Fütterungen gelingt es Susanne Krahe, die Abhängigkeit der Hilflosen sowie die daraus erwachsenden Belastungen für die Helfenden eindringlich darzustellen. Das ist mehr als eine Parabel, es ist ein wahrhaftiger Eindruck aus der Pflege.
Von Liebe und Hunger: "Die Fütterung" (SWR 2)
Füttern heißt verwöhnen. Es zählt zu den ersten Gunstbeweisen,
die jeder erhält. Deshalb führen Verhaltensbiologen Zeichen der
Zärtlichkeit so gerne auf diese Urszene der Brutpflege zurück. Der
Kuß, heißt es, sei ein symbolischer Leckerbissen. Füttern, ob
buchstäblich oder symbolisch, ist die liebevolle Investition in
einen Menschen, dem Hoffnung gilt: die Hoffnung auf sein
glückliches Heranwachsen oder eine gemeinsame Zukunft.
Was aber, wenn der, der gefüttert wird, keine Zukunft hat? Wenn
Pflege und Zuwendung den Geschmack einer lebenserhaltenden
Maßnahme annehinen? Die Dinge drohen sich zu verwandeIn, Nahrung
in Knebel, Lust in Ekel, Füttern in Abfüttern. Diesen
Veränderungen gilt Susanne Krahes Aufmerksamkeit. Sie hat ihr
Stück als "Hörspiel-Tryptichon" angelegt, und wenn es tatsächlich
ein Gemälde wäre, sähe es ungefähr wie folgt aus:
Die Mitteltafel zeigt eine häusliche Szene in einer Wohnküche und
ist in ihrem Aufbau der Bildtradition der "Verkündigung an Maria"
verpflichtet. Anstelle des Engels tritt von links ein junger Mann
herein, in der Hand eine Aluminiumschale mit einem
Fertiggericht. Am Tisch sitzend erwartet ihn eine ältere Frau. Sie
hat ein Lachsbrötchen' eine Tasse Kaffee und einen Aschenbecher
für ihren Gast bereitgestellt. Die Blicke der beiden führen
aneinander vorbei, jeder scheint in seiner eigenen Sphäre zu
bleiben: Die beiden Szenen auf den Seitenflügeln entsprechen
einander spiegel-bildlich. Ein Kind mit Wasserkopf wird von der
Mutter, ein gelähmter Mann von einer Krankenschwester
gefüttert. Beide haben ihrer Pflegeperson Brei ins Gesicht
gespuckt.
Wegschauen und Spucken sind die beiden Motive, aus denen Susanne
Krahe die Szenenfolge entwickelt hat. Die Mutter stopft den
hilflos aufgesperrten Mund ihres behinderten Kindes, um ihn nicht
sehen zu müssen. Löffel für Löffel nährt sie ihre Hoffnung, daß
sich doch alles zum Guten wenden werde. Die Krankenschwester
schaut ihrem Patienten nicht ins Gesicht und gibt ihm so
Gelegenheit, seine Spuck-Attacken vorzubereiten, in denen der vom
Hals abwärts Gelähmte den letzten noch möglichen Akt der
Selbstbehauptung erfährt. Der Zivildienstleistende weicht der
alten Frau aus und versucht, sie mit einer lustlos zur Schau
getragenen Beschwingtheit auf Distanz zu halten. Sie umgamt ihn
verzweifelt, und nach zähem Ringen gelingt es ihr, ihm auch etwas
zu essen aufzunötigen und die demütigende Situation für einen
Augenblick aufzubrechen.
Regisseur Jörg Schlüter beschwört die beklemmende Atmosphäre des
Stücks durch sparsam eingesetzte Geräusche. Eine Spieluhr klimpert
dissonant wie in einem bösen Traum, und über den Köpfen der
Personen schleift irgend etwas langsam hin und her, wie ein
schweres Beil an einem Pendel. Die Zeit schleppt sich mühsam
voran. Daß die Geduld des Zuhörers dennoch nicht strapaziert wird,
ist nicht zuletzt dem präzisen Schnitt von Jeanette Wirtz-Fabian
zu verdanken, der die Stilisierung der kurzen exemplarischen
Szenen unterstreicht.
Susanne Krahe konnte der Versuchung nicht widerstehen, das Stück
mit einem zynischen Schwenk ins Spirituelle ausklingen zu
lassen. Am Ende grübelt der "Spucker" über seinen
Schicksalsgenossen, der an ein kleines Holz-kreuz über der
Zimmertür genagelt ist. Diese und andere Randbemerkungen können es
nicht verhehlen: "Die Fütterung" ist ein religiöses
Sittengemälde. Doch das Verdienst des Hörspiels liegt in der
knappen, treffsicheren und unsentimentalen Beschreibung, der es
gelingt, den Schleier eines obligatorischen Mitleids zu zerreißen
und dabei doch keinem der Beteiligten seine Würde zu nehmen.
Frank Kaspar
Nicht blind von Beruf – Zum Tod der Schriftstellerin Susanne Krahe
Eine vielversprechende Theologin erblindet. Sie bekommt eine Niere transplantiert und eine Bauchspeicheldrüse dazu. Sie wird unsanft aus ihrer wissenschaftlichen Karriere gerissen und findet sich mit Anfang Dreißig unter mütterlicher Aufsicht in ihrer alten Heimat wieder. Was nun? Zu ihrem und unserem Glück kann sie schreiben, konnte es schon vor ihrer Erblindung. Aber jetzt sieht sie klarer. Und tiefer. Ihr durch keine glatte Oberfläche mehr zu täuschender Blick dringt bis in die Randbezirke des menschlichen Lebens vor. Dort kämpfen Menschen auf der Intensivstation ums Leben oder warten im Pflegebett auf die „Fütterung“. Dort wird eine Blinde wie ein lästiges Paket abgestellt und eine Gehbehinderte zum Klotz am Bein.
Susanne Krahe macht ihr Leben zum Material, begutachtet das hinter und vor ihr Liegende mit kühlem Blick, formt um, lässt weg, erfindet hinzu und wird so zur Schriftstellerin. Das Schönreden und Schönfärben ist ihre Sache nicht. Wer gerne fromme Märchen oder wundersame Heilungsgeschichten liest, ist bei ihr an der falschen Adresse. Wer aber keine Angst vor „Reisen in das beschädigte Leben“ hat, wird mit Texten von höchster literarischer Qualität und Intensität belohnt. Dabei formt das Blindsein dieser Autorin eine ganz eigene, die Wirklichkeit mit Händen ertastende Sprache von frappierender Anschaulichkeit. Da steht ein Fragezeichen mitten im Raum, ihm wird der Kopf abgebissen. Da klebt ein Blick an den Brillengläsern fest. Da hinterlässt das "Verpacken" einer traumatischen Erfahrung „Schnitte, die die seidenen Kordeln beim Festzurren in die Fingerkuppen ritzen.“
Auch die Bibel war für Susanne Krahe eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Aus den biblischen Geschichten machte sie moderne Literatur, indem sie die Geschehnisse auf überraschende Weise aktualisierte und verfremdete. Durch diese „literarische Exegese“ wird ein frischer Blick auf scheinbar Bekanntes möglich. Der Evangelist Markus geht als zweifelnder Sucher auf die Reise, aus Rahel wird eine auf Rache sinnende Frau, während Jesus zum „defekten Messias“ mutiert, der seine Jünger durch stotternde Reden und spastische Zuckungen verunsichert. So hatten sie sich den Erlöser nicht vorgestellt.
Wer Susanne Krahe persönlich begegnete konnte erleben, wie geschickt sie manch täppische Befangenheit von uns „Augenmenschen“ auflöste und mit dem ihr eigenen Humor in ein angeregtes Gespräch verwandelte. Da hat sich eine aus ihrer „Dunkelkammer“ ins Freie geschrieben, da hat eine aus ihrem Leben Funken geschlagen, die in manche Nacht hineinleuchten. Wir können nur dankbar sein für dieses Geschenk.
Susanne Krahe ist am 20. August 2022 gestorben. Sie wurde 62 Jahre alt.
Nachruf von Carola Moosbach
erscheint am 1.11 im Magazin P&S (Magazin für Psychtherapie und Seelsorge)