Paperback - ca. 160 Seiten
2002 - Neukirchener Verlag
ISBN: 3-7975-0042-4
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Susanne Krahes Messias ist kein perfekter Held. Er ist ein Leidender und als solchen stellt sie den "defekten Messias" aus der Titelgeschichte ihres neuen Erzählungenbandes in eine Reihe mit den anderen beschädigten, skurrilen, aber auch komischen Protagonisten ihrer Geschichten, welche die existentiellen Fragen der Bibel literarisch neu formulieren. 15 alternative Passionserzählungen führen die alltäglichen Leiden und Leidenschaften dieser Figuren vor: den lakonischen Monolog der 100-jährigen Lisabetha z.B., die von der Idee besessen ist, auf einen Flug über die Datumsgrenze ihren Todestag verpasst zu haben. (Für diese Erzählung erhielt Susanne Krahe im Sommer 2001 den Robert-Geisendörfer-Preis). Allerdings sind diese Charaktäre nicht nur in den Passionen des Alltags unserer Postmoderne gefangen, sondern kennen auch die "an die Kette gelegte Sehnsucht nach Aufbruch".
Das Wort "Gott" kommt im Vokabular dieser literarisch ausgefeilten Erzählungen nur selten vor. Aber die KennerInnen unter den LeserInnen werden ihre Freude an zahlreichen biblischen Anspielungen haben: an Kreuzigungsszenen im Pfarrgarten, an entlarvten unbarmherzigen Samariterinnen und an Vaterfiguren, die ihre Töchter und Söhne das Fürchten lehren. In diesen Erzählungen beweist Susanne Krahe einmal mehr, dass die alten biblischen Themen von Leiden, Abhängigkeit, Schuld und Erlösung universal und von verblüffender Aktualität sind.
Der Titel "Der defekte Messias” ist gleichzeitig eine von 13 Erzählungen dieses Buches. Wie der Untertitel – Alternative Passionserzählungen - schon vermuten lässt, handelt es sich dabei nicht um die locker-leichten, freudigen Lebenserfahrungen, sondern um schwierige Lebensphasen. Themen, die gesellschaftlich gerne an die Seite geräumt werden, für die es professionell Zuständige gibt und mit denen der einzelne sich nicht gerne belastet wie Alter, Behinderung, Tod, Sterben, Partnerschaftliche Probleme, etc. werden hier angesprochen. Frau Krahe erzählt von Menschen und ihren „Unzulänglichkeiten”, von den Dingen, die wir lieber ausblenden, weil sie dem Wunsch nach einer „heilen” Welt entgegenstehen, die uns aber an jeder Ecke begegnen. Gleich in der ersten Geschichte beweist Frau Krahe ihr außergewöhnliches Einfühlungs¬vermögen, indem sie vom Alltag der 97jährigen Lisabetha berichtet. Für die Hörspielversion dieser Erzählung hat die Autorin 2001 den Robert-Geisendörfer-Medienpreis erhalten. Die ersten drei Geschichten ermöglichen einen verstehenden Zugang zu Missverständnissen in der Kommunikation mit älteren Menschen und zu ihrer aus der Biographie erwachsenen Lebensweise, zu ihren Gefühlen, ihrem Denken, ihren Bedürfnissen und ihrem Erleben. Vier Erzählungen erlauben einen Blick in die (Er-)Lebenswelt und Umwelt von Menschen mit Behinderung. In weiteren Beiträgen geht es u.a. um schwierige Lebenssituationen, wie die Fortführung der Ehe nach dem Tod der Tochter, um Fahrerflucht, um eine „verkrachte” Existenz, die von einer besseren Zukunft träumt und auch um passive Sterbehilfe aus der Sicht einer sogenannten hirntoten Patientin, bei der die lebenserhaltenden Geräte abgestellt werden. Frau Krahe schreibt so bildhaft, mit einem reichen lebendigen Wortschatz, dass der Leser sich im Lebensraum der Protagonisten wähnt und mit und durch deren Augen die Welt sehen kann. Ungewöhnlich deutlich werden Kleinigkeiten wahrgenommen, die ansonsten im Alltag untergehen. Zeitlich abgesetzte Einschübe verstärken die jeweilige Aussage der Erzählung. In vielen Geschichten spricht die Autorin auf direkte und doch diskrete, leise und doch nicht zu überhörende Art das (Er-)Leben von Menschen in schwierigen Lebenssituationen an. Immer wieder wird der Leser dabei mit schweren Gefühlen konfrontiert. Dabei stellt sich die Frage, ob diese intensiven Gefühle lediglich Emotionen der Protagonistin/des Protagonisten, oder Ausdruck der Autorin oder vielleicht doch eigene Anteile der Leserindes Lesers sind?! Mal überwiegen Schreibstil und Inhalte, die es dem Leser leicht machen sich in die Handlung hineinzuversetzen. Andere Beiträge sind mit solch brutaler Deutlichkeit geschrieben, dass der Leser gerne dem Geschehen entfliehen möchte und sich an der Grenze des Erträglichen erlebt. Mit diesem wirklich empfehlenswerten Buch hat die studierte Theologin wieder ein Werk veröffentlicht, das dazu beiträgt, dass der Mensch nicht einfach nur „vor sich hin lebt” oder durch zeitliche und gesellschaftliche Vorgaben regelrecht gelebt wird. Vielmehr tragen diese Erzählungen dazu bei an die Aufgabe des Lebens, an den Entwicklungsprozess von uns Menschen und an die Krisenhaftigkeit des Seins zu erinnern. Weit entfernt vom Anspruch des ewigen Glücklichseins auf Erden trägt Frau Krahe mit diesen sehr deutlich und doch empathisch dargestellten alternativen Passionserzählungen viele aktuelle Lebensthemen in einem Buch zusammen.
D. Wolf-Stiegemeyer
Aus "www.muetter.besondere-kinder.de"
Nicht blind von Beruf – Zum Tod der Schriftstellerin Susanne Krahe
Eine vielversprechende Theologin erblindet. Sie bekommt eine Niere transplantiert und eine Bauchspeicheldrüse dazu. Sie wird unsanft aus ihrer wissenschaftlichen Karriere gerissen und findet sich mit Anfang Dreißig unter mütterlicher Aufsicht in ihrer alten Heimat wieder. Was nun? Zu ihrem und unserem Glück kann sie schreiben, konnte es schon vor ihrer Erblindung. Aber jetzt sieht sie klarer. Und tiefer. Ihr durch keine glatte Oberfläche mehr zu täuschender Blick dringt bis in die Randbezirke des menschlichen Lebens vor. Dort kämpfen Menschen auf der Intensivstation ums Leben oder warten im Pflegebett auf die „Fütterung“. Dort wird eine Blinde wie ein lästiges Paket abgestellt und eine Gehbehinderte zum Klotz am Bein.
Susanne Krahe macht ihr Leben zum Material, begutachtet das hinter und vor ihr Liegende mit kühlem Blick, formt um, lässt weg, erfindet hinzu und wird so zur Schriftstellerin. Das Schönreden und Schönfärben ist ihre Sache nicht. Wer gerne fromme Märchen oder wundersame Heilungsgeschichten liest, ist bei ihr an der falschen Adresse. Wer aber keine Angst vor „Reisen in das beschädigte Leben“ hat, wird mit Texten von höchster literarischer Qualität und Intensität belohnt. Dabei formt das Blindsein dieser Autorin eine ganz eigene, die Wirklichkeit mit Händen ertastende Sprache von frappierender Anschaulichkeit. Da steht ein Fragezeichen mitten im Raum, ihm wird der Kopf abgebissen. Da klebt ein Blick an den Brillengläsern fest. Da hinterlässt das "Verpacken" einer traumatischen Erfahrung „Schnitte, die die seidenen Kordeln beim Festzurren in die Fingerkuppen ritzen.“
Auch die Bibel war für Susanne Krahe eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Aus den biblischen Geschichten machte sie moderne Literatur, indem sie die Geschehnisse auf überraschende Weise aktualisierte und verfremdete. Durch diese „literarische Exegese“ wird ein frischer Blick auf scheinbar Bekanntes möglich. Der Evangelist Markus geht als zweifelnder Sucher auf die Reise, aus Rahel wird eine auf Rache sinnende Frau, während Jesus zum „defekten Messias“ mutiert, der seine Jünger durch stotternde Reden und spastische Zuckungen verunsichert. So hatten sie sich den Erlöser nicht vorgestellt.
Wer Susanne Krahe persönlich begegnete konnte erleben, wie geschickt sie manch täppische Befangenheit von uns „Augenmenschen“ auflöste und mit dem ihr eigenen Humor in ein angeregtes Gespräch verwandelte. Da hat sich eine aus ihrer „Dunkelkammer“ ins Freie geschrieben, da hat eine aus ihrem Leben Funken geschlagen, die in manche Nacht hineinleuchten. Wir können nur dankbar sein für dieses Geschenk.
Susanne Krahe ist am 20. August 2022 gestorben. Sie wurde 62 Jahre alt.
Nachruf von Carola Moosbach
erscheint am 1.11 im Magazin P&S (Magazin für Psychtherapie und Seelsorge)